Jahrhunderthalle

Wo früher der Schweiß floss, und sicher auch Blut und Tränen, da wird heute gesungen und getanzt, da werden Texte aufgesagt oder imposante Fotos gemacht. Irgendwann kriegen das auch die Altvorderen mit.

Eines Sonntags, nach Kaffee und Waffeln, sagt Omma: »Watt ist datt getz eigentlich mit die Jahrhunderthalle, da hört man immer so viel von.«

»Zu Recht«, antworte ich, »ist schon ein imposantes Teil.«

»Komm, wir gehen mal los und gucken uns datt an.«

»Jetzt?«

»Hasse noch watt vor?«

Omma ist schon draußen, als ich noch nach meiner Jacke suche. Als wir vor meinem Wagen standen, winkte sie ab: »Datt machen wir zu Fuß, wie früher auch.«

Schon merkwürdig: Ich bin praktisch neben der Jahrhunderthalle, besser gesagt neben dem großen Krupp-Gelände groß geworden, aber immer nur daran vorbeigelaufen. Die Alleestraße führt in westlicher Richtung aus der Innenstadt heraus und das riesige Gelände des »Bochumer Vereins« entlang. Kurz hinter der Einmündung Annastraße beginnt das alte Arbeiterviertel Griesenbruch, an das sich das als »Blaubuchsenviertel« (vom allseits beliebten Volksmund so benannt nach den blauen Hosen der dort lebenden Stahlarbeiter) anschließt, wo wiederum die Brandenburgstraße liegt, die nach dem Ururgroßvater meines Steuerberaters benannt wurde, welcher mitgeholfen hat, die riesige Glocke zu gießen, die auf der Weltausstellung 1867 in Paris für Furore sorgte und heute vor dem Bochumer Rathaus als eines der wenigen echten Wahrzeichen der Stadt fungiert. Im Haus Nummer 1 der Brandenburgstraße lebte bis zu ihrem Tode Mitte der Siebziger meine Uromma, und jahrelang wurde ich von meiner Omma die endlosen Werkshallen entlang zum Sonntagnach-mittags-Kaffeetrinken geschleift, sodass ich den lauten, langen Weg hassen lernte. »Mach ma hin, sonnz wird der Kaffee kalt!« - interessierte mich als passionierten Trinkschokolade-Genießer weniger als gar nicht. Hinter den langen Mauern lag so etwas wie eine »Verbotene Stadt«, zu der niemand Zutritt hatte, der dort nicht arbeitete.

Heute ist der Weg zusammen mit Omma kürzer, die Häuser sehen kleiner aus, und die Straße wirkt nicht mehr so laut. Omma weiß noch alles. Vor allem, dass alles kaputt war, hier ringsum. »Abba getz is ja widda aufgebaut. Kär, ich hätte nich gedacht, datt der Weech so lang is. Abba sind wohl nur meine Beine kürzer!«

Rechts rum in die Wattenscheider Straße. Keine bevorzugte Wohnlage. Stahlarbeiterhäuser, die noch der liebevollhistorischen Restaurierung harren. Ein Hochbunker, ein türkischer Gemüseladen.

»Guck dir datt an!«, sagt Omma und bleibt stehen, deutet mit einer Kopfbewegung auf den Parkplatz. »Wege asphaltiert, abba wo die Autos stehen, is Wiese. Da stehsse doch bei Regen mit deine Abendgarderobe bis zu die Knie inne Matsche. Ich dachte, die machen hier Konzerte und so wat!«

Wir nehmen nicht den befestigten Weg den Hügel hinauf, sondern den mit schwarzem Granulat belegten, und nach hundert Metern stehen wir vor einem ehemaligen Stellwerk der werkseigenen Eisenbahn, von Umkraut umwuchert, ohne Scheiben, aber mit heraushängenden Kabeln. Der Weg schwenkt nach links und führt sanft bergauf, wo bereits das spitz zulaufende Dach des Hallenvorbaus zu erkennen ist.

Die Halle ist nichts ohne die Gegend, also empfiehlt es sich, erst mal ein paar Schritte um sie herum zu machen.

»Ach kumma, datt hammse abba schön gemacht, mit die Bäume!«

Omma meint den Pappelgarten, angelegt für die aktuelle Triennale.

»Da haben einige kritisiert«, gebe ich zu bedenken, »dass man dann die Freitreppe da hinten nicht mehr richtig sieht.«

Omma geht ein paar Schritte, kommt wieder zurück, geht wieder vor und sagt: »Datt is doch Kappes! So isset doch viel überraschender! Erss denksse: Da sind nur die Bäume. Dann gehsse vor und kucks durch die Allee und dann siehsse da die Treppe. Ich find dat gut so! Da hat sich einer wat bei gedacht. Und wo hasse dat heute noch!«

Rechts von der Halle erstreckt sich eine künstliche Wasserrinne, und von Wasser fühlt sich Omma als Witwe eines ehemaligen U-Boot-Fahrers immer noch magisch angezogen. Zwei Männer mittleren Alters lassen dort ferngesteuerte Modellboote fahren. Der eine lenkt sein Feuerschiff auf uns zu und lässt Wasser aus der Löschkanone schießen. Omma legt die Stirn in Falten: »Männer brauchen abba au immer watt zum Spielen.«

Da hinten, Richtung Hamme und Hordel, steigt das begrünte Gelände an. Ein Vater und sein Sohn lassen hier einen Lenkdrachen auf dem Herbst wind reiten. Eine moderne Brücke, die »Erzbahnschwinge«, führt vom Gelände weg, über Brachen und Gewerbegebiete.

»Watt is datt denn da hinten?«, will Omma wissen. »Datt komische Dach?«

»Das ist die Arena auf Schalke, das Fußballstadion.«

Omma dreht sich Richtung Westen. »Und da hinten is der Förderturm vom Berchbaumuseum und der Bismarckturm. Kannze ma sehn, du, so hängt hier allet zusammen.«

Von hinten sieht die Jahrhunderthalle aus wie ein riesiges, rostiges Kunstherz, das Vorjahren aus einem Roboterkörper entnommen worden ist. Die künstlichen Arterien hängen nutzlos heraus. Damit kann Omma nichts anfangen. »Ich würd' sagen, datt sind einfach nur Rohre. Wieso machense die denn nich ab? Datt sieht doch nich aus!«

Ein kleines, unausgegorenes Referat über Abbruch-Look und den verführerischen Chic des Verfalls wäre jetzt wohl reine Luftverschwendung.

Gleich daneben die Turbinenhalle, deren Dach gerade neu gedeckt und deren Fenster neu montiert werden. Zwischen Turbinen- und Jahrhunderthalle hindurch, den Bühneneingang passierend und dann zweimal links herum, stehen wir wieder vor der Stahl- und Glaskonstruktion des Haupteingangsbereiches und blicken durch die haushohen Scheiben in die veranstaltungsbegleitende »Jahrhundertbar«.

Omma ist ganz angetan. »Schön hammse datt gemacht. Ich wusste gar nicht, datt et so hohe Scheiben überhaupt gibbt! Abba kumma die Stühle da: orangschene Polster! Da hasse dreimal drauf gesessen, dann krisse die nich mehr sauber! Wieso heißt datt eigentlich Jahrhunderthalle? Für dein Uroppa war datt immer nur die Gaskraftzentrale.«

Der Name ist eine moderne Erfindung. Als der Bochumer Verein 1902 auf der Düsseldorfer Industrie- und Gewerbeaus-stellung einen eigenen Pavillon errichtete, führte niemand diese Bezeichnung im Munde.

Wir betreten die Halle durch hohe Stahltüren, von denen Omma meint, sie sähen aus wie früher in der Reichskanzlei die Türen zu Adolfs Arbeitszimmer, nur eben aus Stahl. Das lassen wir mal so stehen.

Und endlich stehen wir in der einhundertdreißig Meter langen Halle 1. »Watt ein Riesending!«, entfährt es Omma. »Wie ne Kirche, odda? Wie der Kölner Dom, meinzze nich?«

Stimmt. Nicht umsonst spricht man hier von einer Industrie-»Kathedrale«, von Seiten- und Mittelschiffen. Ein Eindruck, der sich noch verstärkt, wenn man sich historische Aufnahmen von der Düsseldorfer Ausstellung ansieht. Da hatte die Halle noch einiges mehr an Türmchen und Zinnen und, vor allem, einen Glockenturm! Arbeit war hier schon immer heilig.

Omma klopft gegen die genieteten Stahlsäulen, auf denen die gesamte Konstruktion ruht: »Krisse nich kaputt!«

Geradeaus stoßen wir auf die größte der beiden Veranstaltungshallen. Omma ist geplättet: »Wie viel Leute gehen da rein? Dreitausend?«

»Naja, eher so tausend bis fünfzehnhundert.«

»Nu werd nich kleinlich, Junge! Wenn datt allet voll ist, sieht datt aus wie dreitausend, egal wie viele datt sind!«

Die kleinere Halle, die immer noch etwa sieben- bis achthundert Zuschauern Platz bietet, findet Omma regelrecht gemütlich, »jedenfalls gegen die andere!«

Als wir in Halle 1 zurückkommen, werden draußen die Wolken am Himmel über Stahlhausen für einen Moment beiseitegeschoben und Sonne fällt durch die hohen Fenster an der Westseite.

»Ich sach doch: wie inne Kirche. Hoffentlich sind hier die Predichten nur besser.«

Ich versichere Omma, dass die Ruhr-Triennale jetzt schon ein Festival von europäischem Rang sei und auch das übrige Programm hier allererste Qualität habe.

Wieder draußen auf dem Gelände wagt Omma ein abschließendes Fazit: »Also nee, ich muss sagen, datt hammse schön gemacht. Nur datt der Parkplatz so weit wech is. Die Leute wollen immer bis vor de Tür fahren! Also haut mal hier noch ne Tiefgarage in den Berch, mit nem Aufzuch bis vor den Eingang, und dann wird datt hier richtich lustich.«

Auf dem Rückweg nehmen wir die Freitreppe Richtung Alleestraße, und Omma erzählt von der Wohnung ihrer Eltern an der Elsassstraße, nur ein paar hundert Meter Luftlinie von hier, und wie ihr Vater, mein Uroppa, der in der Fremdenlegion gewesen war und fließend Englisch und Französisch sprach, immer Feindsender hörte und wie er sich deswegen mal mit einem Arbeitskollegen, einem strammen Parteigenossen, hier vorne vor Tor 5 deswegen geprügelt habe. Aber das war schon gegen Ende gewesen, als es schon fast egal war. Und die Arbeit sei ja auch nicht immer schön gewesen. »Is schon besser, wat da heute gemacht wird, in datt Dingen! Abba eins würd mich mal interessieren.«

»Ja?«

»Wie heizen die datt eigentlich da drin? Datt kann doch keiner bezahlen, odda?«

»Das bezahlen wir alle zusammen, Omma.«

Omma lächelt. Der Gedanke, dass die Jahrhunderthalle auch ein bisschen ihr gehört, gefällt ihr.

 

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